Du bist ein Gott, der mich sieht.
Genesis
16,13 (L)
Wir befinden
uns auf den ersten Seiten der Bibel. Sie erzählen von Menschen, die sich lieben
und streiten, von tödlicher Eifersucht, komplizierten Familienverhältnissen,
von Lug und Trug, von Scheitern und Neuanfängen. Mit diesen Menschen schreibt
Gott Geschichte(n). Mit Menschen, die glauben und zweifeln. Mit Menschen, die
sich an seine Verheißungen klammern, auch wenn sie lange auf ihre Erfüllung
warten müssen.
Wie Abram und Sarai. Ihre Geschichte beginnt mit einem verhängnisvollen Satz: „Aber
Sarai war unfruchtbar und hatte kein Kind.“ (Genesis 11, 30)
Welche Tragik klingt da schon an! Solche scheinbar in Stein gemeißelten Sätze
gibt es, die über Menschen und Familien stehen. „Aber Sarai war unfruchtbar…“
- Stimmt das?
Was steht
wie ein ehernes Gesetz über meinem Leben und hat ihm einen Stempel aufgedrückt?
Was bleibt mir versagt und aus welcher Ecke komme ich nicht heraus?
Gott verspricht
Abram und Sarai
stammen aus Ur in Mesopotamien, dem heutigen Irak. Auf Gottes Zusage hin wagen
sie den Aufbruch: „Und der HERR sprach zu Abram: Geh aus deinem Vaterland
und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich
dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen
und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.“ (Genesis 12,
1u.2)
„Aber Sarai
war unfruchtbar und hatte kein Kind.“ Wie ein roter Faden zieht sich das durch ihr Leben.
Ebenso Gottes großes Versprechen: Ich werde euch das Land Kanaan geben und ihr
werdet ein großes Volk werden!
Was passiert? Beide werden älter, sind viel und zum Teil recht abenteuerlich
unterwegs und wohnen als Fremdlinge im verheißenen Land. Steht Gott zu seinem
Wort oder haben sie vergeblich gehofft?
Wo zerreißt
mich die Spannung zwischen Gottes Versprechen und seinem Eingreifen?
Wo gilt es, auf Gottes Eingreifen zu warten und wo muss ich selbst aktiv
werden?
Seit Abram
und Sarai als Fremdlinge in Kanaan wohnen, sind zehn Jahre ins Land gezogen: „Sarai,
Abrams Frau, gebar ihm kein Kind. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß
Hagar.“ (Gen. 16,1)
Mit einer dritten Person kommt Bewegung in die Geschichte: Hagars semitischer
Name bedeutet Flucht, Fremdling. Sarai erhofft sich von ihr das Ende einer
unerträglich langen Warteschleife: „Und Sarai sprach zu Abram: Siehe, der
HERR hat mich verschlossen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner
Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme. Und Abram gehorchte der
Stimme Sarais.“ (Genesis 16,2)
Die Idee Sarais mag uns verwerflich vorkommen. Abrams willfähriger Gehorsam mag
uns befremden. Im Alten Orient war dieser Plan nicht außergewöhnlich. Sarais
Magd soll die Rolle einer Leihmutter übernehmen. Wird das Kind der Leibmagd auf
dem Schoß der Herrin geboren, wird es als vollberechtigtes Glied der Familie
anerkannt. Sarais Geduld ist am Ende und sie beschließt, Gottes Versprechen auf
die Sprünge zu helfen. Die Folgen lassen nicht lange auf sich warten. Hagar
wird schwanger. Ein Wendepunkt im Leben von Sarai, Abram und Hagar, der
nachwirkt bis heute.
Wie oft
fällen wir Entscheidungen nicht nur für uns selbst, sondern mit weitreichenden
Folgen für andere und kommende Generationen?
Gott sieht
Wie geht es
Hagar damit? Sie ist Sarais Magd – das ist ihr Stempel. Außerdem eine
Geflüchtete, eine Fremde, wie ihr Name schon sagt. Als solche verrichtet sie
ihren Dienst ungeachtet und im Hintergrund. Jetzt gerät sie in den Blick und
soll Abrams und Sarais Kinderwunsch erfüllen. Sie braucht nicht gefragt zu
werden, fügt sich und wird tatsächlich schwanger. Hagar lässt ihre Herrin
spüren, wer jetzt die angesehenere Position hat. Die Dynamik zwischen den
beiden eskaliert. Gegenseitige Demütigungen sind an der Tagesordnung. Wie
reagiert Abram? Offensichtlich erst, als Sarai explodiert und sich über die
Erniedrigung durch Hagar beschwert. Bevor ihre Herrin Maßnahmen gegen sie
ergreift, flieht die Schwangere in die Wüste Schur. Erschöpft lässt sie sich an
einer Wasserquelle zu Boden fallen.
In ihrer
Grafik richtet Stefanie Bahlinger unseren Blick auf dieses Häufchen Elend.
Hagar kauert am Boden zerstört im Wüstensand. Die Künstlerin holt sie aus ihrem
Schattendasein ins Licht. Senkrecht von oben leuchtet es auf sie herab. Noch durchdringt
es nicht das Dunkel ihrer Verzweiflung. Noch schafft Hagar es nicht, sich
aufzurichten. In ihrem Elend mutterseelenallein vergräbt sie ihr Gesicht in den
Händen und weint. Leise nähert sich ihr eine blaue Gestalt und berührt sie. Es
folgt ein Zwiegespräch zwischen dem Engel und ihr: „Aber der Engel des HERRN
fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege
nach Schur. Der sprach zu ihr: Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo
willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen.“
(Genesis 16, 7 u.8)
Hier passiert Unglaubliches im Leben von Hagar. Sie ist die erste Frau in der
Bibel, die Gott durch seinen Boten persönlich anspricht! Sie bleibt Sarais
Dienerin. Doch vom Engel wahrgenommen und mit ihrem Namen angesprochen bekommt
sie ihre Würde zurück. Bisher hatte sie zu befolgen, was ihre Herrin befahl.
Jetzt wird sie gefragt: „Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst
du hin?“ Eine alltäglich anmutende Frage wird an dieser Stelle zu einer existentiellen.
„Wo kommst
du her und wo willst du hin?“ Eine wichtige Frage, der es sich auch dann zu
stellen lohnt, wenn wir nicht am Boden liegen!
Hagars
Antwort fällt kurz aus: „Ich bin von meiner Herrin Sarai geflohen.“
Damit bringt sie ihre Verzweiflung auf den Punkt. Zwei Personen sind im
Hintergrund der Grafik zu sehen – vermutlich sind es Abram und Sarai. Nur
schemenhaft gemalt dominieren sie die rechte Bildhälfte. In warme rotorange
Töne getaucht setzen sie sich deutlich ab von dem zarten Grün und Blau der
linken Bildhälfte. Viel Wärme hat Hagar bei Sarai und Abram nicht erfahren.
Vielleicht meint das Rotorange die hitzigen Reibereien zwischen Sarai und
Hagar? Viel kleiner, fast unscheinbar wirkt dagegen die blaue Gestalt, die sich
Hagar zuwendet. Zeigt ihr der Engel einen Weg aus dem Dilemma? Bedeuten die
Grün – und Blautöne, dass neuer Lebensmut und Hoffnung in ihr wachsen?
Doch der Engel schickt sie in die „heiße“ Situation zurück. Es ist die einzige
Chance, dass ihr Kind als legitimer Sohn Abrams anerkannt werden kann. Hagar
ist nicht nur die erste Frau in der Bibel, die Gott durch seinen Boten
persönlich anspricht, sondern auch die erste Frau, die eine umfassende
Segensverheißung erhält: „Und der Engel des HERRN sprach zu ihr: Ich will
deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt
werden können. Weiter sprach der Engel des HERRN zu ihr: Siehe, du bist
schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael
nennen; denn der HERR hat dein Elend erhört.“ (Gen 16, 10 u.11)
Noch ist
Hagar in der Wüste und weiß, dass sie wieder umkehren muss. Zwischen ihr und
den beiden Figuren im Hintergrund dominiert die Farbe Violett, die auch für
Verwandlung stehen kann. Die beginnt bei Hagar. In der Begegnung mit dem Boten
Gottes erfährt sie Gott selbst und kommt zu der Erkenntnis:
„Und sie nannte den Namen des HERRN, der mit ihr redete: Du bist ein Gott,
der mich sieht.“ (Gen. 16, 13) Das ist für Hagar der Name Gottes und
zugleich ihr persönliches Glaubensbekenntnis! Diese Erkenntnis richtet sie auf
und verwandelt sie von der Dienerin Sarais zur von Gott angesehenen und
gesegneten Hagar.
Gott sieht sie nicht nur, sondern hat auch ihr Elend gehört. Damit sie das nie
vergisst, soll sie ihrem Sohn den Namen Ismael geben, der genau das bedeutet:
Gott hört. Als der Engel wieder entschwindet, kann sie es kaum fassen: „Gewiss
hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat. Darum nannte man
den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. Er liegt zwischen Kadesch
und Bered.“ (Genesis 16, 13 f.) Er wird zu einem Ort, an dem Israel
bezeugt, dass Gott auf das Elend der Entrechteten und Entmachteten sieht und
sich ihrer annimmt.
Gott ist treu
Nach ihrer
Rückkehr bekommt Hagar erneut die Endlosschleife mit, in der Abram und Sarai
immer noch stecken. Ein Licht am Horizont: „Und Hagar gebar Abram einen
Sohn, und Abram nannte den Sohn, den ihm Hagar gebar, Ismael.“ (Genesis 16, 15)
Endlich trifft auch das längst Versprochene und bisher vergeblich Erhoffte ein:
„Und der HERR nahm sich Saras an, wie er gesagt hatte, und tat an ihr, wie
er geredet hatte. Und Sara ward schwanger und gebar dem Abraham in seinem Alter
einen Sohn um die Zeit, von der Gott zu ihm geredet hatte. Und Abraham nannte
seinen Sohn, der ihm geboren war, Isaak, den ihm Sara gebar.“ (Genesis 21, 1 –
3)
Endlich! Möchte die Künstlerin mit ihrer Farbgebung an Gottes Regenbogen und an
seinen unverbrüchlichen Bund mit uns Menschen erinnern? Er ist auch über unser
Leben und Gottes Geschichte(n) mit uns gespannt – und zerreißt nicht.
Wie ein lichtdurchfluteter Vorhang breiten sich die Farbflächen nach unten hin
aus. In der Mitte öffnet er sich. Es gibt Zeiten, in denen ich mich vergeblich
nach Gottes spürbarer Nähe und seinem Eingreifen sehne, er aber wie hinter
einem Vorhang verborgen bleibt. Dann reißt der Vorhang plötzlich auf und lässt
mich, und sei es manchmal auch nur für kurze Zeit, erkennen: Ich bin ihm nicht
egal. ER sieht und hört mich. Und ER greift ein.